Wir haben die Leute vom Verein für aktive Gedenk- und Erinnerungskultur APC (Alpine Peace Crossing) getroffen. Die Initiative entstand im Jahr 2007.
MALMOE: Wie ist eure Geschichte?
APC: Der Beginn des Vereins stellte die Erinnerung an eine fast vergessene Fluchtbewegung, die 1947 ihren Höhepunkt hatte, dar. Das war 2007 und als eine einmalige Geschichte gedacht. Die hat sich dann zum Selbstläufer entwickelt. Damals wurde der Verein von Menschen gegründet, die kurz vor der Pensionierung standen oder schon in Pension waren. Die Nachwuchsarbeit haben sie eher vernachlässigt und es stellte sich die Frage: auflösen oder übergeben. Wir haben schließlich vor mehr als vier Jahren den Verein übernommen und etwas neu ausgerichtet.
Warum an das Jahr 1947 erinnern?
Mit Kriegsende hörte bekanntlich der Antisemitismus nicht auf. Zigtausende jüdische Menschen aus Osteuropa, die Konzentrations- und Vernichtungslager oder in Verstecken den Krieg überlebt hatten, machten auf ihrer Fluchtroute weg aus Europa in Salzburg Zwischenstopp. Bis 1946 war es noch einfacher von hier aus weiter nach Südtirol/Alto Adige zu fliehen, bekannt ist hier etwa der Reschenpass in Tirol. Die Besatzungsmächte ließen Menschen einfach über Grenzen passieren. Doch mit zunehmender Spannung in Palästina übte die damalige Kolonialmacht Großbritannien Druck auf ihre Bündnispartner aus. Die Grenzen sollten dichtgemacht werden. Es brauchte eine neue Route, die wurde über die Krimmler Tauern gefunden.
Salzburg – das wissen viele nicht – hat einen knapp zehn Kilometer langen Grenzsteifen mit Italien, der heute komplett irrelevant ist. Es gibt hier nur zwei Gebirgspässe im hochalpinen Raum. Der Tauernpass war eine Jahrtausende alte Handels- und Schmuggelroute. Vor allem nach 1945 war das relevant, doch gibt es auch Hinweise, dass dieser Weg bereits vor 1945 als Fluchtroute genutzt wurde.
Wir wissen bis heute nicht genau, wie viele Menschen diesen Weg genommen haben. Das Ganze ist größtenteils geheim abgelaufen. Es waren aber schätzungsweise zwischen fünftausend und siebentausend jüdische Menschen die von Mai bis Oktober 1947, als es die Witterung zuließ, die Grenze überquerten.
Wie war das Erinnern in Salzburg an dieses historische Kapitel?
In Salzburg gab es Jahrzehntelang eigentlich überhaupt keine öffentliche Erinnerung. 1997, also fünfzig Jahre später, und auf Betreiben der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg gab es eine Gedenkfeier. Da wurde eine kleine Gedenktafel am Tauernpass angebracht. Danach war das ganze erstmal wieder vergessen. Um 2006 rum gab es dann eben diese Bestrebungen etwas zu machen, die der Ausgangspunkt unserer heutigen Arbeit ist.
Und was tut ihr da konkret?
Als Schwerpunkt organisieren wir einmal im Jahr ein Gedenkwochenende vor Ort in Krimml. Dort gibt es meistens eine Gedenkfeier und einen Rundgang durch das ehemalige DP-Camp in Saalfelden, außerdem ein Symposium, Diskussionen und Filme. Und dann gibt es Gedenkwanderungen mit inhaltlichen Inputs auf diesen Spuren der Route bis nach Italien. Das ist der Kern unserer Arbeit seit 2007.
Der ländliche Raum allgemein, aber gerade auch Berge und die Alpen sind ja oft sehr völkisch besetzt. So wie wir euch verstehen, ist eure Arbeit auch eine Intervention in dieses rechte Narrativ. Wie seht ihr das?
Unseren Vorgänger_innen war es wichtig, etwas sichtbar zu machen, das lange keine Aufmerksamkeit bekommen hat. Wir wollen etwas weiter gehen und in diesen traditionellen Räumen, wo Begriffe wie „Heimat“ heute noch eine größere Rolle spielen, bewusst ein Gegenzeichen setzten. Auch historisch, in den 1920/30er-Jahren, gab es hier schon weit verbreitetes „völkisches“ Gedankengut und starken Antisemitismus, gerade was Alpenvereine und dergleichen betrifft. In Salzburg haben sich bereits einzelne Sommerfrische- oder Wintertourismusorte als „judenfrei“ erklärt, um attraktiv für nicht nur „Völkische“ sondern auch das Bürgertum aus den Städten zu sein. Dynamiken, die es in abgeschwächter Form teils bis heute gibt, wie etwa Kletterrouten in Österreich, die nach furchtbaren Rechtsextremen, Ereignissen, Bands und dergleichen benannt sind. Das ist nach wie vor noch ganz stark so – was nicht mehr als „Blut und Boden“ benannt wird, aber das Gleiche meint.
In den Alpen gibt es recht wenig linke Tradition und wir wollen zeigen, dass es anders geht. Dass sich der Raum auch mit einem anderen Gedankengut angeeignet werden kann.
Einmal im Jahr gebt ihr die Alpendistel heraus, die nächste Ausgabe ist für April 2023 angesetzt. Wie kam es zu dem Projekt?
Die Alpendistel ist ein Corona-Projekt. Relativ kurzfristig mussten wir all unsere Gedenkveranstaltung absagen. Und zu Beginn von Covid mussten wir alle mal nicht arbeiten und das Projekt ist recht kurzfristig aus dem Boden gestampft worden. Zu unserer Überraschung haben fast alle Angefragten zugesagt und so kam es zu diesem dicken Heft. Unser Rhythmus ist jetzt ein Mal im Jahr zu erscheinen.
Die Gedenkwanderung in den Bergen passiert ja abseits einer größeren Öffentlichkeit, anders sieht das bei eurem Memoryspiel gegen das Verdrängen aus, das ihr im Dezember 2020 in der Salzburger Innenstadt veranstaltet habt. Was tut sich da?
Im Memoryspiel thematisieren wir die 66 Benennungen von Straßen nach NS-Akteur_innen und -Profiteur_innen. Die Präsentation der Ergebnisse einer Historiker_innenkommission wurde von der Stadt immer wieder verschoben. Wir haben dann, nach monatelanger Recherche, zu allen Staßennamen mit NS-Bezug problematisierende Kurzbiografien formuliert und ein riesiges Memoryspiel gestaltet. Auf 2 x 66 Karten wurden die Rollen der Personen im Nationalsozialismus und als Pendent das abfotografierte Straßenschild abgebildet. Wir haben das Spiel auf mehr als hundert Quadratmetern am zentralsten Platz der Stadt ausgebreitet. Es war sehr spannend, weil wir Menschen damit teilweise provoziert haben, die dann mit uns in Diskussionen getreten sind, aber es gab auch Menschen, die diese Karten zerstören wollten. Es gab eine ziemlich große mediale Resonanz, was Druck auf die Politik ausgeübt hat. Wiederum die Kehrseite des Ganzen: Mittlerweile ist dieser gut recherchierte Bericht veröffentlich worden, die Stadtpolitik hat das Ganze zur Kenntnis genommen und meint damit ihre „historische Pflicht“ erfüllt zu haben. And that’s it. Für uns und andere Antifaschist_innen wie dem KZ-Verband in Salzburg war das ziemlich ernüchternd und teilweise ein Scheitern, weil nichts passierte. Wir sind aber immer noch am Tüfteln, das Thema lässt uns und andere nicht los, wir planen auch für Anfang Jänner wieder eine Intervention. Aber es ist in Salzburg mit den derzeitigen politischen Kräfteverhältnissen auch ein ziemlicher Kampf gegen Windmühlen.
Wie kann man euch am besten unterstützen?
(Lacht) Also über Spenden freuen wir uns natürlich immer, wir sind ein ehrenamtlicher Verein. Aber spannend ist es für uns vor allem, wenn die Themen, die wir anstoßen, Resonanz finden und weiterverbreitet werden: wenn Menschen sich durch die Texte in der Alpendistel inspiriert fühlen und zum Beispiel Interviews mit uns führen oder sie zu unseren Veranstaltungen kommen. Ab Februar 2023 kann sich auch wieder für unsere Gedenkwanderungen 2023 über unsere Homepage: alpinepeacecrossing.org angemeldet werden.